
Warum hören Kinder nicht auf Eltern?
Es ist ein weit verbreitetes Problem: Kinder hören nicht auf ihre Eltern. Ratschläge prallen an ihnen ab, Regeln werden ignoriert und gut gemeinte Anweisungen werden abgelehnt. Stattdessen scheinen sie auf die Meinung ihrer Freunde und Gleichaltrigen mehr Wert zu legen als auf die der eigenen Eltern. Warum ist das so?
Das Verhalten hat tief verwurzelte biologische und psychologische Ursachen. Kinder durchlaufen in der Pubertät nicht nur eine körperliche, sondern auch eine soziale und emotionale Entwicklung. In dieser Phase steht die Ablösung von den Eltern im Mittelpunkt – ein Prozess, der evolutionär fest im Menschen verankert ist. Wenn Kinder nicht hören, liegt das nicht an mangelnder Erziehung, sondern an der natürlichen Entwicklung des Gehirns und des sozialen Systems.
Die wissenschaftlichen Ursachen
Es gibt klare neurologische und soziale Gründe, warum Kinder nicht auf Eltern hören – besonders während der Pubertät.
1. Entwicklung des Gehirns
In der Pubertät durchläuft das menschliche Gehirn eine massive Neuordnung. Der präfrontale Kortex, der für rationales Denken, Kontrolle und langfristige Planung zuständig ist, ist in dieser Phase noch nicht vollständig entwickelt. Gleichzeitig ist das limbische System – das Zentrum für Emotionen und soziale Reaktionen – besonders aktiv.
👉 Das bedeutet: Jugendliche sind emotionaler, handeln impulsiver und reagieren stärker auf kurzfristige Belohnungen. Die Meinung der Eltern tritt dabei oft in den Hintergrund, weil die Anerkennung durch Gleichaltrige in dieser Phase eine stärkere Belohnungsreaktion im Gehirn auslöst.
Studie von Sarah-Jayne Blakemore:
Eine Untersuchung von Blakemore (2012) zeigte, dass das jugendliche Gehirn besonders stark auf soziale Bestätigung durch Gleichaltrige reagiert, während elterliche Anerkennung weniger Einfluss hat.
Quelle: Sarah-Jayne Blakemore – Adolescence and the social brain
2. Evolutionäre Trennung von der Ursprungsfamilie
Aus evolutionärer Sicht war es für das Überleben der Menschheit wichtig, dass Jugendliche die eigene Familie verlassen und sich mit anderen Gruppen vermischen, um Inzucht zu vermeiden.
👉 Jugendliche, die sich von der elterlichen Kontrolle lösen und eigene soziale Netzwerke aufbauen, haben evolutionär betrachtet bessere Überlebenschancen gehabt. Die Ablehnung der elterlichen Autorität könnte also ein Überbleibsel dieses biologischen Mechanismus sein.
Die evolutionären Ursprünge des rebellischen Verhaltens
Das Phänomen, dass Kinder während der Pubertät auf die Eltern nicht mehr hören, hat tief verwurzelte evolutionäre Ursachen, die bis in die früheste Menschheitsgeschichte zurückreichen. In der Zeit der Jäger und Sammler lebten die Menschen in kleinen Gruppen oder Stämmen (Tribes) von etwa 30 bis 100 Personen. Die biologische und soziale Struktur dieser Gruppen war darauf ausgerichtet, das Überleben der gesamten Gemeinschaft zu sichern – und dazu gehörte auch die Vermeidung von Inzucht.
👉 Um die genetische Vielfalt zu erhalten, war es notwendig, dass Jugendliche im fortpflanzungsfähigen Alter ihren ursprünglichen Stamm verließen und sich einer neuen Gruppe anschlossen. Dieser Drang, sich von der elterlichen Gruppe abzugrenzen, war also evolutionär programmiert und diente der natürlichen Selektion und genetischen Stabilität.
In der Pubertät entstand daher eine natürliche Distanzierung von den Eltern – nicht, weil die Eltern plötzlich weniger kompetent erschienen, sondern weil der biologische Mechanismus dafür sorgte, dass die Jugendlichen neue soziale Kontakte knüpften und sich mit anderen Gruppen vermischten. So wurden Inzucht und genetische Defekte vermieden und die Überlebenschancen der Gruppe insgesamt erhöht.
👉 Dieser Trieb, dass Kinder nicht hören, sich von der elterlichen Autorität zu lösen, ist also kein modernes Problem, sondern ein Überbleibsel aus der frühesten Menschheitsgeschichte. Das erklärt, warum Kinder in der Pubertät stärker auf Gleichaltrige hören und die elterlichen Ratschläge ablehnen – es ist ein tief verwurzelter Überlebensinstinkt, der in unserer modernen Gesellschaft noch immer aktiv ist.
Auch wenn Inzucht heute kein unmittelbares Problem mehr darstellt, bleibt der Mechanismus bestehen. Die Ablehnung der elterlichen Autorität und die Orientierung an Gleichaltrigen sind also nicht nur eine soziale Dynamik, sondern das Ergebnis eines jahrtausendealten biologischen Programms.
Studie von Bernard Chapais:
Chapais (2008) analysierte, dass die Tendenz zur sozialen Abgrenzung in der Pubertät eine direkte Folge der evolutionären Entwicklung des Menschen ist.
Quelle: Bernard Chapais – Kinship, competence and cooperation
3. Psychologischer Reifungsprozess
Die Ablehnung der elterlichen Autorität ist auch ein wichtiger Schritt zur Identitätsbildung. Jugendliche wollen eigene Werte, Meinungen und Überzeugungen entwickeln. Das bedeutet, dass sie automatisch in eine Phase der Rebellion eintreten – selbst wenn die Eltern eigentlich recht haben.
👉 Kritik von Gleichaltrigen wird als konstruktiv wahrgenommen, während Kritik von Eltern oft als Angriff auf die eigene Unabhängigkeit gewertet wird.
Warum hören Kinder auf Gleichaltrige, aber nicht auf Eltern?
Das soziale Belohnungssystem im Gehirn ist in der Pubertät stark auf die Gruppe ausgerichtet. Bestätigung und Akzeptanz durch Gleichaltrige werden stärker belohnt als elterliche Anerkennung.
• Ein Lob von einem Freund aktiviert das Belohnungszentrum im Gehirn stärker als ein Lob von den Eltern.
• Jugendliche wollen nicht als Außenseiter gelten – die Zugehörigkeit zur Gruppe ist in der Pubertät entscheidend.
• Kritik von Eltern wird oft als Versuch wahrgenommen, die eigene Autonomie zu untergraben.
👉 Das Ergebnis: Jugendliche hören auf Gleichaltrige und andere Erwachsene – aber nicht auf die eigenen Eltern.
Wie Eltern das Verhalten von Kindern dennoch beeinflussen können
1. Indirekte Einflussnahme über andere Eltern und Gleichaltrige
Wenn dein Kind nicht auf dich hört aber auf Gleichaltrige schon, nutze diesen Einfluss gezielt:
• Sprich mit den Eltern der Freunde und bitte sie, bestimmte Werte und Regeln zu kommunizieren.
• Wenn dein Kind sich weigert, die Hausaufgaben zu machen, könnte die Mutter eines Freundes denselben Rat geben – und dein Kind wird ihn möglicherweise annehmen.
• Lehrer, Trainer oder Mentoren können ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, um positive Verhaltensmuster zu fördern.
2. Positive Gruppendynamik erzeugen
Wenn Kinder auf die Meinung von Gleichaltrigen hören, sorge dafür, dass sie mit der richtigen Gruppe zusammen sind:
• Lade Freunde ein, die positive Werte vermitteln.
• Fördere die Teilnahme an Sportvereinen, sozialen Gruppen oder anderen Gemeinschaften.
• Ermutige dein Kind, sich mit positiven Vorbildern zu umgeben.
3. Kontrolle loslassen und Vertrauen aufbauen
Je mehr Druck Eltern ausüben, desto größer ist der Widerstand der Jugendlichen. Die beste Strategie ist Vertrauen und Unterstützung:
• Stelle Fragen anstatt Anweisungen zu geben.
• Vermittle deinem Kind, dass du seine Entscheidungen respektierst.
• Sei ein ruhiger Gesprächspartner und vermeide Konfrontationen.
👉 Wenn Kinder das Gefühl haben, ernst genommen zu werden, steigt die Bereitschaft, auch auf die Meinung der Eltern zu hören.
4. Kommuniziere auf Augenhöhe
Anstatt von oben herab zu sprechen, ist es effektiver, deinem Kind auf Augenhöhe zu begegnen:
• Stelle offene Fragen („Wie siehst du das?“)
• Höre aktiv zu, ohne direkt zu korrigieren.
• Vermeide Vorwürfe oder Belehrungen.
Fazit
Wenn Kinder nicht auf Eltern hören, ist das kein Zeichen von schlechter Erziehung – es ist ein natürlicher und tief verwurzelter Entwicklungsprozess, der sich aus biologischen, sozialen und evolutionären Mechanismen ergibt. In der Pubertät verändert sich das Gehirn grundlegend. Die Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen, ist noch nicht vollständig ausgereift, während das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung durch Gleichaltrige immer stärker wird. Diese neurologische Umstrukturierung führt dazu, dass Jugendliche stärker auf die Meinung von Freunden und weniger auf die ihrer Eltern hören.
Gleichzeitig handelt es sich um ein evolutionäres Überbleibsel aus der Zeit der Jäger und Sammler. Die Natur hat vorgesehen, dass Jugendliche im fortpflanzungsfähigen Alter ihre elterliche Gruppe verlassen und sich mit anderen sozialen Gruppen vermischen, um die genetische Vielfalt zu erhalten und Inzucht zu vermeiden. Dieser Mechanismus ist auch heute noch aktiv – und erklärt, warum Jugendliche die elterliche Autorität ablehnen, sich stärker an Gleichaltrigen orientieren und neue soziale Bindungen außerhalb der Familie suchen.
Dieser Prozess, dass Kinder nicht hören, kann für Eltern sehr frustrierend sein, aber er ist nicht nur unvermeidbar, sondern auch notwendig für die psychologische Reifung des Kindes. Jugendliche müssen sich von ihren Eltern lösen, um eine eigene Identität zu entwickeln und später als unabhängige Erwachsene in der Gesellschaft bestehen zu können. Die Herausforderung für Eltern besteht darin, diesen Prozess zu akzeptieren und gleichzeitig ein unterstützendes Umfeld zu schaffen, in dem das Kind auf sichere Weise seine Autonomie entwickeln kann.
Eltern können diese Mechanismen zu ihrem Vorteil nutzen, indem sie die positiven Einflüsse von Gleichaltrigen und anderen Erwachsenen bewusst fördern. Wenn dein Kind nicht hört und auf die Meinung von Freunden mehr Wert legt als auf deine eigenen Ratschläge, kann es sinnvoll sein, gezielt die sozialen Gruppen zu beeinflussen, in denen sich dein Kind bewegt. Indem du dafür sorgst, dass dein Kind von positiven Vorbildern umgeben ist, stärkst du indirekt auch die Werte und Überzeugungen, die du selbst vermitteln möchtest.
Auch der Einfluss von Lehrern, Trainern oder Mentoren kann gezielt genutzt werden, um deinem Kind wichtige Werte zu vermitteln. Wenn ein Trainer oder ein Lehrer deinem Kind die gleiche Botschaft vermittelt wie du, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass diese Botschaft akzeptiert wird. Der Grund dafür liegt darin, dass die Bestätigung von außerhalb der Familie als objektiver und weniger kontrollierend wahrgenommen wird.
Gleichzeitig ist es wichtig, die Kommunikation mit deinem Kind aufrechtzuerhalten, ohne es zu bevormunden oder zu kontrollieren. Offene Gespräche auf Augenhöhe, aktives Zuhören und die Bereitschaft, die Meinung des Kindes ernst zu nehmen, schaffen eine Atmosphäre des Vertrauens. Wenn dein Kind merkt, dass du es respektierst und seine Sichtweise verstehst, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es auch deine Ratschläge ernst nimmt.
Die beste Strategie besteht darin, Kontrolle loszulassen und stattdessen Vertrauen aufzubauen. Je weniger Druck du ausübst, desto weniger wird dein Kind das Bedürfnis verspüren, sich zu widersetzen. Jugendliche müssen die Freiheit haben, eigene Entscheidungen zu treffen – und dabei auch Fehler zu machen. Wenn du ihnen diesen Freiraum gibst, aber gleichzeitig ein stabiles und unterstützendes Umfeld bietest, wird dein Kind in der Lage sein, gesunde Entscheidungen zu treffen und die Werte zu verinnerlichen, die du vermitteln möchtest.
Es ist normal, dass Kinder in der Pubertät nicht auf ihre Eltern hören – das bedeutet nicht, dass sie dich nicht respektieren oder lieben. Es ist ein biologischer und psychologischer Prozess, der notwendig ist, damit sie zu unabhängigen, selbstbewussten Erwachsenen heranwachsen können. Anstatt gegen diesen Prozess anzukämpfen, kannst du ihn zu deinem Vorteil nutzen, indem du die sozialen Mechanismen der Gruppe gezielt steuerst und dein Kind durch Vertrauen und Unterstützung begleitest.
Am Ende geht es darum, die Balance zwischen Freiheit und Führung zu finden. Dein Kind wird in der Pubertät Fehler machen – das ist ein unvermeidlicher Teil des Reifungsprozesses. Wenn du jedoch ein Umfeld schaffst, in dem dein Kind weiß, dass es jederzeit auf deine Unterstützung und deinen Rückhalt zählen kann, wird es diese Phase der Rebellion und Orientierungssuche mit einem gefestigten Selbstbewusstsein und starken Werten durchlaufen.
Quelle: Laurence Steinberg – Adolescence and Peer Influence
Interne Links:
• Erfolgreiche Erziehung trotz Pubertät
• Wie man die emotionale Entwicklung von Jugendlichen fördert
Externe Links:
• Sarah-Jayne Blakemore – Adolescence and the social brain
• Bernard Chapais – Kinship, competence and cooperation
• Laurence Steinberg – Adolescence and Peer Influence
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