Das große Vergessen: Eine Notwendigkeit der Inkarnation
Warum wir vor der Geburt alles vergessen, ist eine der tiefsten Fragen, die sich Menschen mit einem Gespür für das Transzendente stellen. Es erscheint paradox: Wenn die Seele unsterblich ist, warum tritt sie dann in einen Körper ein, nur um zu vergessen, wer sie ist? Diese scheinbare Amnesie ist jedoch kein Defekt, sondern ein zentrales Merkmal der Inkarnation. Sie ist Bedingung für die volle Erfahrung des Menschseins. Denn ohne das Vergessen gäbe es keine Überraschung, keine Entwicklung, keine echte Entscheidung – sondern nur das Wiederkäuen bereits bekannten Wissens.
Die tibetische Bardo-Lehre spricht davon, dass es 49 Tage dauert, bis eine Seele vollständig in den Körper eingetreten ist. In dieser Zeit durchwandert sie verschiedene Ebenen der Existenz, begegnet eigenen Ängsten und Visionen, bis sie durch Resonanz mit einer irdischen Konstellation – zwei Menschen, eine Umgebung, ein genetischer Rahmen – inkarniert. Die Erinnerung an das „Davor“ wird mit jedem Schritt mehr verschleiert. Und genau das ist entscheidend: Denn nur durch dieses Vergessen wird die irdische Erfahrung zur echten Herausforderung.
Vergessen ist kein Scheitern – es ist der Vorhang, der das Stück erst möglich macht.
Die Bühne der Welt: Warum das Spiel nur mit Blindheit funktioniert
Warum wir vor der Geburt alles vergessen, lässt sich auch mit einem Gleichnis erklären: Stell dir einen Schauspieler vor, der seine Rolle spielt, während er sich die ganze Zeit seiner Identität bewusst ist. Das Stück würde an Tiefe verlieren. Seine Reaktionen wären kalkuliert, nicht echt. Genauso verhält es sich mit der Seele. Um wahrhaft in die Rolle des Menschen zu schlüpfen, muss sie vergessen, dass sie ein unendliches Wesen ist.
Diese Blindheit ist keine Schwäche, sondern der Schlüssel zu echter Erfahrung. Freude, Angst, Zweifel, Liebe – all diese Emotionen entfalten nur dann ihre volle Kraft, wenn sie unter der Bedingung des Unwissens erlebt werden. Ein Baby weiß nicht, dass es eine Seele ist. Ein Erwachsener kann es nur durch inneres Ringen erahnen. Erst im Schmerz, in der Reibung und durch das Erleben von Trennung reift das Bewusstsein.
In dieser Struktur wird auch die Vielfalt der Lebenswege verstehbar: Manche leben ein ruhiges, einfaches Leben. Andere taumeln durch Krisen und Transformationen. Doch alle – bewusst oder nicht – bewegen sich innerhalb des Rahmens, den sie sich selbst vor der Geburt gewählt haben. Das große Paradoxon: Wir vergessen diesen Plan, um ihn freier erfüllen zu können.
Diese Idee lässt sich mit modernen Erkenntnissen aus der Rückführungsforschung, wie sie etwa von Michael Newton oder Brian L. Weiss vertreten wird, untermauern. Beide berichten unabhängig voneinander, dass Seelen oft sehr genau wissen, was sie erwartet – es aber dennoch in Kauf nehmen, um zu wachsen.

Kontrolle oder Freiheit? Die Debatte über höhere Mächte
Viele fragen sich, ob das Vergessen der Seele auch mit Manipulation zu tun hat. Gibt es Kräfte – sei es in der metaphysischen Zwischenwelt oder auf der Erde selbst –, die daran interessiert sind, dass wir vergessen? Wird uns dieses Vergessen vielleicht aufgezwungen, damit wir leichter zu kontrollieren sind?
Die Vorstellung, dass es sogenannte Archonten oder niedere Intelligenzen gibt, die sich vom menschlichen Leiden nähren, zieht sich durch viele spirituelle und mystische Traditionen. Gnostische Schriften sprechen von Weltenherrschern, die die Seele am Aufstieg hindern. Doch diese Theorien – so faszinierend sie sein mögen – führen oft in eine Spirale der Ohnmacht.
Warum wir vor der Geburt alles vergessen, ist vermutlich weniger ein Akt von Fremdkontrolle, sondern vielmehr ein zutiefst freiwilliger Schritt. Eine Seele, die reif ist für eine bestimmte Erfahrung, weiß, dass sie durch das vollständige Eintauchen in die Materie nur dann lernt, wenn sie nicht „spickt“. Es wäre ein bisschen so, als würde man ein Spiel nur spielen, wenn man schon alle Antworten kennt. Wo bliebe da der Reiz?
Zugleich ist das System – ob von einem Gott, einer Quelle oder einem universellen Prinzip entworfen – so gestaltet, dass es maximalen Erfahrungsraum bietet. Jede Inkarnation wird zur Gelegenheit, etwas zu verfeinern, etwas zu heilen oder etwas vollständig zu durchleben.
Erinnerung als Rückweg – aber nicht als Ziel
Warum wir vor der Geburt alles vergessen, bedeutet nicht, dass Erinnerung sinnlos wäre. Vielmehr ist sie der optionale Rückweg. Manche Menschen haben plötzliche Nahtoderfahrungen, Déjà-vus oder intensive spirituelle Träume, die ihnen ein Stück Erinnerung zurückgeben. Doch diese Erinnerungen sollen nicht dazu dienen, das Spiel zu beenden – sondern es tiefer zu verstehen.
Spirituelles Erwachen ist daher nicht das große Ziel jeder Inkarnation. Es ist eher wie ein möglicher Bonus, ein inneres Erwachen zur Essenz des Seins – aber nie eine Pflicht. Wer das Leben in all seinen Facetten lebt – mit Schmerz, Liebe, Langeweile, Lust, Angst und Hoffnung – erfüllt ebenso den Sinn der Inkarnation.
Das bewusste Streben nach einem „Zurück zur Erinnerung“ kann auch zur Falle werden, wenn es das Leben im Jetzt schwächt. Denn in der Jagd nach Erleuchtung übersieht man leicht die Schönheit der Erfahrung selbst.
Ein berühmtes Zitat aus der Kabbala sagt: „Gott wollte gesehen werden – und erschuf die Welt.“ Vielleicht wollte auch die Seele sich selbst erfahren – und erschuf das Leben in Vergessenheit.
Fazit: Vergessen ist der Anfang jeder wahren Erfahrung
Warum wir vor der Geburt alles vergessen, ist keine Tragödie – es ist ein Geschenk. Ohne dieses Vergessen gäbe es keine echte Erfahrung, keine freie Wahl, keine überraschende Entwicklung. Es ist der Schleier, der die Bühne der Welt vor uns ausbreitet. Und in genau diesem Schleier liegt der tiefere Sinn: zu leben, zu spüren, zu fallen, zu wachsen – ohne zu wissen, dass es „nur“ ein Spiel ist.
In diesem Sinne ist jede noch so stille oder turbulente Biografie nicht das Ergebnis von Zufällen, sondern Ausdruck einer tieferen Absicht. Und das Vergessen? Vielleicht ist es das mutigste Ja der Seele überhaupt.
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