Ein Zustand jenseits von Gedanken und Träumen
In einer Welt, die vom Dauerrauschen mentaler Aktivität geprägt ist, scheint es kaum vorstellbar, dass wir manchmal bei vollem Bewusstsein „an nichts denken“. Doch genau diesen Zustand untersuchten Neurowissenschaftler kürzlich genauer – und kamen zu einer überraschenden Erkenntnis: Der sogenannte Mind Blanking Bewusstseinszustand ist weder Tagtraum noch Dösen, sondern möglicherweise eine eigenständige Form des Wachbewusstseins.
Ein internationales Team aus Forscherinnen und Forschern – darunter Thomas Andrillon (Sorbonne Université), Jennifer Windt (Monash University), Antoine Lutz (Lyon Neuroscience Research Center) und Athena Demertzi (Université de Liège) – hat diesen mentalen Leerlauf in der Fachzeitschrift Trends in Cognitive Sciences beschrieben. Sie deuten darauf hin, dass es sich dabei um einen messbaren, biologisch verankerten Zustand handelt, der sich klar von Tagträumerei und fokussiertem Denken unterscheidet.
Die Studie analysierte Berichte von Versuchspersonen, die während alltäglicher Tätigkeiten wie Meetings, Autofahrten oder Hausarbeiten Phasen intensiver Gedankenlosigkeit erlebten. Diese Episoden seien nicht mit Schlaf oder klassischem Abschweifen gleichzusetzen – vielmehr handle es sich um „geistige Stille“, die sich weder absichtlich noch durch Meditation herbeiführen ließ.
Was ist Mind Blanking – und was ist es nicht?
„Mind Blanking klingt für viele zunächst nach einem Blackout“, erklärt Andrillon im Gespräch mit der WELT. Doch anders als der vorübergehende Gedächtnisausfall bei Prüfungsstress handelt es sich hier um eine alltägliche, spontane und stille Leere im Kopf, die häufig gegen Ende kognitiv fordernder Aufgaben, bei Schlafmangel oder körperlicher Erschöpfung auftritt.
Es sei kein Dösen, betont das Forscherteam, sondern ein Zwischenzustand: Die Testpersonen waren weiterhin wach und konnten ihre Umgebung wahrnehmen – sie erinnerten sich jedoch nicht daran, woran sie in diesem Moment gedacht hatten, oder gaben explizit an, überhaupt an nichts gedacht zu haben.
Dieser scheinbar paradoxe Zustand widerspricht den gängigen Theorien über Bewusstsein, die üblicherweise davon ausgehen, dass Wachheit durch einen kontinuierlichen Strom an Gedanken, Wahrnehmungen und Emotionen gekennzeichnet ist. Doch der Mind Blanking Bewusstseinszustand zeigt: Bewusstsein kann auch ohne Inhalt bestehen.
Das Gehirn zwischen Wachheit und Schlaf
Mithilfe von EEG-Messungen (Elektroenzephalografie) analysierten die Wissenschaftler die Hirnaktivität während dieser Phasen geistiger Leere. Die Ergebnisse waren überraschend: Die Muster ähnelten nicht dem klassischen Wachzustand, sondern wiesen Eigenschaften auf, wie sie beim Einschlafen oder in leichten Schlafphasen auftreten. Die Hirnaktivität verlangsamt sich dabei, es kommt zu einer sogenannten „globalen Synchronisation“, bei der verschiedene Areale gleichmäßig „schwingen“.

Man könnte diesen Zustand als eine Art lokalen Kurzschlaf im wachen Gehirn bezeichnen. Während die Person äußerlich wach erscheint, scheinen Teile des Gehirns temporär in den Energiesparmodus zu wechseln. Diese Erkenntnisse wurden zuvor bereits in Nature Communications veröffentlicht und untermauern die Annahme, dass es sich nicht um eine willkürliche Gedankenleere handelt, sondern um einen systematisch auftretenden Zustand mit erkennbaren neuronalen Mustern.
Der Gedanke, dass sich das Gehirn während des Tages selbst „reinigt“, ist nicht neu. Schon lange weiß man, dass im Tiefschlaf neurotoxische Abfallstoffe abgebaut und Erinnerungen konsolidiert werden. Der Mind Blanking Bewusstseinszustand könnte eine tagesaktive Mini-Reinigungsphase sein – eine Art „Reset-Knopf“, der dem Gehirn erlaubt, temporär alle Inhalte zu entladen, um Rechenkapazität freizugeben oder Ordnung zu schaffen.
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Klinische Relevanz und diagnostisches Potenzial
Das interdisziplinäre Forscherteam sieht großes Potenzial in der genaueren Erforschung von Mind Blanking. Denn viele Menschen, die unter psychischen Belastungen wie ADHS, Schlafstörungen oder Angstzuständen leiden, berichten von diffusen Erlebnissen geistiger Leere. Wenn der Mind Blanking Bewusstseinszustand klar definiert und gemessen werden kann, ließe er sich künftig vielleicht als Marker für mentale Erschöpfung oder neurologische Dysregulation einsetzen.
Auch für die Meditation ist diese Erkenntnis bedeutsam. Viele traditionelle Praktiken zielen auf das „Stillewerden des Geistes“ ab – etwa das reine Gewahrsein ohne Gedanken. Doch während solche Zustände kultiviert und bewusst herbeigeführt werden, liegt der Fokus der aktuellen Forschung auf spontan auftretender Gedankenlosigkeit, also unbeabsichtigter geistiger Stille.
Diese Unterscheidung ist zentral: Denn während Meditationstechniken bewusst auf Leere hinarbeiten, geschieht Mind Blanking passiv, abrupt und oft unbemerkt. Genau das macht ihn aus Sicht der Forscher so faszinierend – und gleichzeitig so schwer zu greifen.
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Der leere Geist – eine evolutionäre Funktion?
Eine weitere Hypothese lautet: Der Mind Blanking Bewusstseinszustand ist ein evolutionärer Schutzmechanismus. Das Gehirn schützt sich vor Überlastung, indem es kurzzeitig den mentalen Arbeitsspeicher leert – ganz ohne unser aktives Zutun. Dabei sinkt die Reizverarbeitung ab, komplexe Gedankenstrukturen werden unterbrochen, und es entsteht eine Art „Neutralzustand“, ähnlich dem Leerlauf eines Motors.
Wenn sich dieser Zustand als universell und reproduzierbar erweist, könnte er künftig sogar therapeutisch genutzt werden: Zur Beruhigung, zur Verarbeitung von Belastungen oder als Grundlage für neue Formen psychologischer Intervention.
Das interdisziplinäre Forschungsteam hat mittlerweile acht verschiedene Typen von geistiger Leere identifiziert – darunter auch „weiße Träume“, bei denen Menschen berichten, sie hätten im Traum nichts erlebt, aber dennoch das Gefühl gehabt, bewusst gewesen zu sein. Auch das spricht dafür, dass es sich bei Mind Blanking nicht um ein einzelnes Phänomen, sondern um ein Spektrum minimaler Bewusstseinsformen handelt.
Mind Blanking Bewusstseinszustand: Zwischen Meditation, Forschung und klinischer Anwendung
Gedankenleere in der Meditation – ein uraltes Phänomen?
Der Mind Blanking Bewusstseinszustand, wie ihn die aktuelle Hirnforschung beschreibt, wirft eine faszinierende Brücke zu jahrtausendealten Meditationspraktiken. In zahlreichen spirituellen Traditionen – etwa im Zen-Buddhismus, dem Taoismus oder in indischen Yogalehren – wird der Zustand völliger Gedankenstille als höchstes Ziel angestrebt. Praktiken wie Shikantaza, Samatha oder reines Gewahrsein haben das Erleben von „Nicht-Denken“ bewusst kultiviert, um das Bewusstsein zu klären und zu vertiefen.
Doch was die Neurowissenschaftler um Thomas Andrillon und Jennifer Windt untersuchen, ist etwas anderes: Keine willentlich herbeigeführte Meditation, sondern eine unbeabsichtigte, spontane Leere im Kopf, die mitten im Alltag auftreten kann – zum Beispiel während eines Zoom-Meetings oder nach körperlicher Erschöpfung.
Trotzdem zeigen sich erstaunliche Parallelen in der Beschreibung der Erfahrung: Sowohl erfahrene Meditierende als auch Versuchspersonen berichten von klarer Wachheit bei vollständiger Inhaltslosigkeit. Dieses Paradoxon – Bewusstsein ohne Inhalt – ist eine Herausforderung für jede Theorie des Geistes. Es zeigt, dass Bewusstsein möglicherweise nicht davon abhängt, was es enthält, sondern allein davon, dass es existiert.
Wenn du dich näher für Bewusstseinszustände ohne mentale Inhalte interessierst, findest du auf Domiversum eine kulturkritische Betrachtung darüber, wie Denkpausen und geistige Ruhe gesellschaftlich verdrängt werden – oft zum Nachteil für kognitive Gesundheit.
Potenzial für Medizin, Psychiatrie und Psychologie
Die gezielte Erforschung des Mind Blanking Bewusstseinszustands könnte künftig auch klinische Relevanz entfalten. Menschen mit ADHS, Angststörungen oder chronischer Schlaflosigkeit berichten häufig von Phasen, in denen sie sich „weggetreten“, „geistig leer“ oder „abgeschaltet“ fühlen – bislang oft unspezifisch und schwer messbar.
Wenn sich jedoch der Zustand der geistigen Leere neurophysiologisch klar beschreiben und per EEG nachweisen lässt, könnte daraus ein diagnostisches Werkzeug entstehen. Denkbar wäre zum Beispiel der Einsatz von kontrollierten Mind Blanking-Übungen zur kognitiven Erholung, ähnlich wie es heute bei Achtsamkeitstrainings oder autogenem Training der Fall ist.
Interessanterweise könnte der Zustand auch therapeutisch zur Regulation von Reizüberflutung und innerer Unruhe eingesetzt werden. In einer Welt der ständigen Überforderung – durch Informationen, Erwartungen, Nachrichtenfluten – ist die Fähigkeit zur inneren Entleerung womöglich heilender als jede intellektuelle Aktivität.
Auf Mexidom findest du ergänzend einen Beitrag über Lebensqualität und geistige Freiheit – auch dort zeigt sich, wie stark innere Ruhe das subjektive Wohlbefinden beeinflusst.
Neue Theorien des Bewusstseins – eine Herausforderung
Der Mind Blanking Bewusstseinszustand widerspricht vielen klassischen Theorien über das menschliche Bewusstsein. Besonders in der Philosophie und der kognitiven Neurowissenschaft galt lange: Bewusstsein = Inhalt. Ein Zustand ohne Gedanken oder Empfindungen galt entweder als unbewusst oder als messbar irrelevant.
Doch genau das wird jetzt in Frage gestellt. Der Zustand des „leeren Bewusstseins“ bringt ein Konzept ins Spiel, das bisher nur vereinzelt – etwa bei Mystikern, Philosophen wie Meister Eckhart oder modernen Bewusstseinsforschern wie Thomas Metzinger – angedeutet wurde: Bewusstsein kann auch als „Form ohne Füllung“ existieren.
Diese Sichtweise könnte weitreichende Auswirkungen auf unsere Selbstwahrnehmung, unsere medizinische Diagnostik und unser Menschenbild haben. Sie fordert uns heraus, die Idee vom Dauerdenken als Normalzustand zu hinterfragen – und öffnet den Raum für eine neue innere Dimension: bewusste Präsenz ohne kognitive Aktivität.
Besonders spannend ist dabei die Idee, dass diese Zustände nicht durch Training oder Meditation herbeigeführt werden müssen, sondern biologisch eingebaut sind – ein Schutzmechanismus des Gehirns, vergleichbar mit einem „mentalen Energiesparmodus“.
Die Grenzen der Sprache – und die Kraft der Erfahrung
Eines der größten Probleme bei der Erforschung des Mind Blanking Bewusstseinszustands ist seine sprachliche Unzugänglichkeit. Wie beschreibt man einen Zustand, in dem es nichts zu beschreiben gibt? Wie analysiert man Bewusstsein, wenn gerade das Erleben von Leere das zentrale Element ist?
Die Forschergruppe versucht deshalb, mit subjektiven Berichten, EEG-Messungen und interdisziplinären Perspektiven ein Bild zu zeichnen – ein Bild von einem Zustand, der sich nicht durch Inhalte, sondern durch deren Abwesenheit definiert.
Doch gerade das macht ihn so relevant für eine Zeit, in der wir geistig selten wirklich zur Ruhe kommen. Der Mind Blanking Bewusstseinszustand zeigt: Es gibt Momente im Alltag, in denen unser Geist bewusst nichts tut – und gerade darin liegt seine Kraft.
Fazit: Mind Blanking Bewusstseinszustand – Das klare Nichts im Kopf
Der Mind Blanking Bewusstseinszustand ist kein Fehler, kein Blackout und kein Zufall. Er ist ein biologisch verankerter, messbarer Zustand geistiger Leere, der sich von Tagträumen, Müdigkeit und Meditation klar abgrenzt. Er zeigt, dass unser Gehirn nicht nur mit Gedanken funktioniert, sondern auch durch gezielte Nicht-Aktivität regeneriert.
Dieser Zustand fordert klassische Theorien des Bewusstseins heraus – und bietet neue Möglichkeiten für Medizin, Psychologie und das Selbstverständnis des modernen Menschen. Vielleicht ist Bewusstsein nicht nur Denken, sondern auch das Wissen, dass gerade nichts gedacht wird.
Und vielleicht liegt in dieser geistigen Stille genau das, was wir in einer überreizten Welt am meisten brauchen: eine Rückkehr zu uns selbst – ohne Inhalt, aber mit Präsenz.